Ein Erfahrungsbericht zur wechselhaften Geschichte eines Entwicklungs-Standortes, verfasst von Manfred Ender:

 

Vom Polizeifunk zum GSM-Handy

Wie entwickelt man ein kommerzielles Produkt mit einer vollständig neuen Technologiekomponente? Vor dieser Frage steht jedes Unternehmen einmal. Eine Lösung heißt Evolution statt Revolution, d.h. die Ausnutzung möglicher Synergien zwischen verschiedenen Produkten und zwischen den Generationen einer Produktlinie, oder auf neudeutsch „re-use“. Wie führte dieser Weg konkret zum ersten GSM-Handy des Ulmer Standortes?

Die Erfahrung bei der Entwicklung von Endgeräten lag beim Ulmer Standort vor 1987 im Bereich des sogenannten nicht-öffentlichen mobilen Landfunks (d.h. für Behörden, Polizei, Feuerwehr‚ etc.). Diese Geräte benutzten analoge Übertragungsverfahren und relativ einfache Steuerungsmechanismen. Auf dem Weg zum GSM-Handy war allerdings noch einiges zusätzlich zu lernen über

  • das störungsfreie Zusammenspiel von digitaler Signalverarbeitung mit seinen hohen Taktfrequenzen und den Hochfrequenz-Empfangsstufen,
  • die Nutzung einer SIM-Karte zur Identifikation eines Nutzers‚
  • die Software-Implementation von Kommunikationsprotokollen,
  • die GSM-Technologie als solcher mit insbesondere seiner komplexen unteren Übertragungsschicht‚
  • die energiesparende Organisation der digitalen Signalverarbeitung sowie
  • die Integration aller elektronischen Komponenten zur Volumenreduktion.

Der Weg begann mit der Entwicklung eines C-Netz-Autotelefons. Als Basis wurde ein BOS-Funkgerät für den Fahrzeugeinbau mit Bedienhandapparat verwendet. Der Bedienhandapparat mit seinem Kommunikationsprotokoll zum Einbaugerät wurde so umgestaltet‚ dass er einen SIM-Kartenleser aufnehmen konnte. Dem C-Netz lag eine analoge Signalübertragung im 450 MHz-Bereich zugrunde. Dabei wurde das Sprachsignal in Blöcke zu je 12,5 ms zerteilt‚ um ca. 10% komprimiert, in die so entstandene Lücke die notwendigen Organisationssignale für die Kommunikation (wie Gesprächsaufbau‚ Handover, etc.) eingefügt und das gesamte Signal analog moduliert übertragen. Dies bot sich als Lernschritt für die digitale Signalverarbeitung in der Funkgerätetechnik an. So wurden einige junge Hochschulabgänger mit passendem Knowhow eingestellt, die die Aufgabe bekamen die Implementation der Hardware und Software zur digitalen Signalverarbeitung durchzuführen. Im Jahr 1988 kam dann unser erstes eigenes C-Netz-Autotelefon‚ das AT451‚ auf den Markt.

Das Knowhow über die GSM-Technologie wurde durch Mitarbeit im ECR900-Konsortium erworben.

aus dem Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften: Nr. L 228/31 

aus dem Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften: Nr. L 228/31,
Link zum Amtsblatt

Wir übernahmen dabei mit Ausnahme des HF-Teils die gesamte Entwicklung des sogenannten Validationssystems (ein „mobiles“ Endgerät mit dem Volumen eines Schrankes). Nun ausgestattet mit dem notwendigen GSM-Knowhow und den Erfahrungen bei der Entwicklung unseres C-Netz-Autotelefons‚ nahmen wir letzteres als Gerätebasis. Das Gehäuse des C-Netzgerätes konnte gleichzeitig zwei Platinen aufnehmen. So wurde eine zum HF-Teil unseres neuen GSM-Autotelefons und auf der zweiten Platine wurden drei Prozessoren für die Signalverarbeitung implementiert. 1992 kam auf diese Weise unser erstes GSM-Autotelefon, das AT9OOD, auf den Markt. Mit einer Batterieeinheit konnte es bei einem Gewicht von etwa 3.5 kg tragbar genutzt werden.

Im nächsten Schritt erfolgte eine Kostenreduktion des Gerätes. Als Gerätebasis hierfür diente die zweite Generation unseres C-Netz-Autotelefons, das AT452. Durch den Übergang zu einer 1-Platinenlösung waren dessen Kosten für die Produktion erheblich reduziert worden. Gleichzeitig erhielt die portable Version eine gefälligere Form. Damit die Elektronik des GSM-Gerätes auf einer Platine untergebracht werden konnte‚ musste die gesamte digitale Signalverarbeitung in einem einzigen Prozessor zusammengefasst werde. Dies gelang in einer engen Zusammenarbeit mit der Firma Texas Instruments Inc.‚ die uns einen auf unsere Bedürfnisse zugeschnittenen Signalprozessor bereit stellten. 1993 ging dann unsere zweite Generation des GSM-Autotelefons, das AT901D, in den Markt und blieb bis 1998 in Produktion.

Am Standort Ulm waren auch eine Anzahl analoger Handfunkgeräte für den BOS-Bereich entwickelt worden. Die dort gewonnen Erfahrungen in der Geräte-Aufbautechnik konnten nun verwendet werden, um dem Übergang zum GSM-Handy den Weg zu bereiten. In diese Geräteaufbaukonzepte war die 1-Platinenlösung des AT901D einzubetten. Eine zusätzliche Herausforderung lag dabei im Energiemanagement‚ das eine weitere Optimierung der HF-Technik als auch der Digitaltechnik und der damit verbundenen Gerätesteuerung erforderte. 1994 kam schließlich unser erstes GSM-Handy auf den Markt. Es wog 250g, erlaubte eine Betriebsbereitschaft von 16-20 Stunden und unterstützte eine Gesprächsdauer von ungefähr einer Stunde. Für ein GSM-Handy der ersten Generation waren dies gute Kennwerte. Auf Basis des HT901 entstanden noch zwei Frequenzvarianten für den 1800 MHz und den 1900 Mhz Bereich‚ sowie bis 1997 zwei weitere Generationen von Handies.

 

Die erste Generation: Das HT901 mit Ladestation 

Die erste Generation: Das HT901 mit Ladestation

Die vorstehenden Ausführungen über den Weg vom Polizeifunk zum GSM-Handy geben die übliche einfache Sicht des Managements wieder.Der Teufel steckte allerdings wie üblich im Detail.
Zum Glück gab es aber ja auch noch unsere Ingenieure und Techniker‚ die immer Lösungen für die auftretenden Herausforderungen fanden.

 


Über den Autor Manfred Ender:
Dr. Manfred Ender war von 1989 bis 1998 der Entwicklungsleiter für Mobile Endgeräte der AEG Mobile Communications am Standort Ulm.