Wie kam eigentlich Telefunken nach Ulm?

Auf Befehl von Kaiser Wilhelm – so die Anekdote – wurden die „Manager“ (so würde man heute sagen) von Siemens und der AEG 1903 in Berlin verdonnert, eine Firma ähnlich der britischen „Marconi“ zu gründen. Herausgekommen ist „Telefunken“, eine Firma, die schon nach wenigen Jahren weltbekannt wurde.

Im zweiten Weltkrieg war Telefunken, wie viele andere Firmen auch, ein kriegswichtiger Betrieb mit der Folge, dass Betriebsteile von Berlin aus Sicherheitsgründen auf verschiedene Orte des Deutschen Reiches und Polens ausgelagert wurden.

In Lodz (Polen, damals Litzmannstadt) wurde 1942 ein Werk für Elektronenröhren errichtet, denn Röhren wurden während des Krieges „in Massen“ benötigt. Für die Auslagerung gab es im Wesentlichen zwei Gründe: Man glaubte sich in Polen sicher vor Bombenangriffen (in Berlin war das schon anders) und es gab dort beliebig viele Arbeitskräfte, denn jeder Pole und jede Polin (ab dem 14. Lebensjahr) musste sich bei den Deutschen zur Arbeit zu melden.

Das Innenleben von Röhren ist äußerst filigran und erfordert deswegen sehr feinfühlige Handarbeit. Das ist der Grund, dass hauptsächlich junge Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren beschäftigt wurden, was ca. 80% der Belegschaft entsprach. Trotz aller Tragödien haben diese jungen Mädchen vergleichsweise gerne bei Telefunken gearbeitet, konnten sie doch zu Hause wohnen bleiben und wurden nicht irgendwohin ins Deutsche Reich als Zwangsarbeiterinnen verschleppt.

Die Lage in Polen änderte sich ab 1943 dramatisch, da die russische Armee immer weiter nach Westen vorrückte. Im Frühjahr 1944 konnte man in Lodz den Donner russischer Kanonen schon hören, was zur Folge hatte, dass das Röhrenwerk zügig abgebaut und mit 10 Eisenbahnzügen in aller Eile „Heim ins Reich“ verfrachtet wurde. Und zwar einschließlich der Belegschaft, ca. 1800 Menschen, überwiegend junge Mädchen.

Auf der Suche nach einem noch relativ ruhigen Ort fand man Ulm und richtete sich in den Kasematten der Wilhelmsburg ein. So kam die Firma Telefunken im Sommer 1944 nach Ulm, doch niemand hatte es gewusst, denn während des Krieges war alles geheim. Benannt wurde das Werk „Mechanische Werkstätten".

Da man in der Aufbauphase die Zwangsarbeiterinnen noch nicht brauchte, wurden sie zur Erntehilfe an Bauern im Umland „ausgeliehen“. Als dann im Herbst der Aufbau des Werks fertig war, wurden die Erntehelferinnen rasch wieder eingesammelt. Von den etwa 1400 Zwangsarbeiterinnen (es gab auch einige wenige Männer), „wohnte“ etwa die Hälfte in dunklen Räumen der Burg, der Rest in der Keppler-Mittelschule in der Stadt.

Unter schwierigsten Bedingungen, wie Stromsperren, Materialmangel und Bombenangriffen wurde vom Herbst 1944 bis zur Kapitulation am 24. April 1945 noch sage und schreibe 280.700 Röhren produziert. *)

Zielstrebig ging es kurz nach der Kapitulation weiter: Von den früheren leitenden Angestellten wurde schon 1945 das „Telefunken Röhrenwerk“ in der Söflinger Straße in Ulm gegründet.

Ganz anders war es in Berlin: Nach Kriegsende 45 lag Berlin in Schutt und Asche und so auch mehrere Berliner Werke von Telefunken. Die ausgelagerten Telefunken Werke aber lagen zumeist in der „Ostzone“ (später DDR) und in Polen und waren dort auch mehr oder weniger zerstört.

Wie sollte es nun weitergehen? Die verbliebenen-überlebenden-nicht gefangenen genommenen Telefunken Mitarbeiter wollten wieder in Arbeit und Brot. So entwickelten sich mehrere „Telefunken-Keimzellen“, sowohl in West-Deutschland als auch in West-Berlin (siehe auch „Vom Chaos zu neuer Weltgeltung“).

Besonders gut dokumentiert ist die „Keimzelle Dachau“. Versprengte Telefunker sammelten sich dort und knüpften Kontakte mit der amerikanischen Besatzungsmacht. Zu dieser Zeit gab es noch viel Material der deutschen Wehrmacht, welches die Amerikaner vernichten wollten.

Die Telefunker aber erhielten die Erlaubnis, bei den Amerikanern eine Baracke zu beziehen, um dort Wehrmachts-Funkgeräte zu zerlegen, die sie von den Amerikanern in großen Mengen zugeliefert bekamen.

Um etwas Neues zu bauen, musste man alte Geräte erst zerlegen, denn man hatte weder Geld, um Komponenten zu kaufen und noch gab es überhaupt irgendwelche Bauteile. Es war die schwere Zeit der Improvisation und des unkonventionellen Handelns, wie man es sich heute in unserer Konsumgesellschaft kaum vorstellen kann.

Aus den bei der Gerätezerlegung gewonnenen Teilen baute man u.a. Lautsprecherverstärker, die bei den amerikanischen Soldaten hoch im Kurs standen, da sie z. B. in ihren Clubs bei Tanzveranstaltungen eingesetzt werden konnten. Das trug sehr zur Vertrauensbildung bei der Besatzungsmacht bei.

Natürlich baute man auch Radios, denn dafür war der Bedarf riesengross. Viele Menschen waren ja ausgebombt und hatten alles verloren oder aber, wenn Besatzungssoldaten noch intakte Wohnungen kontrollierten, verschwanden Radios und Fotoapparate vermutlich, um in den Taschen der Sieger zu landen. Fast alle Radios, die in der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1948 entstanden, waren von sehr einfacher Bauweise („Einkreiser“) und konnten nur in kleinen Stückzahlen gebaut werden. Diese Geräte wurden später "Notradio" genannt.

Bezahlt wurde damals meistens mit Naturalien oder es wurde gegen anderes Material getauscht. Bei einem dieser „Geschäfte“ mit den amerikanischen Soldaten in Dachau boten diese Holz als Zahlungsmittel an. Das war zwar ungewöhnlich, wurde aber trotzdem gerne genommen, da man mit Holz immer etwas anfangen konnte. Und so kam es auch und die zukünftigen Telefunker staunten nicht schlecht: Etliche LKWs brachten Holz und Balken. Damit konnten sie, mit großer Improvisation, eine weitere Baracke bauen und so den Betrieb erweitern. Er erhielt zuerst den Namen „Zerlegerwerk“, aber schon bald wurde er „Apparatewerk Bayern“ benannt.

1951 wurde der Standort Dachau mit dem Apparatewerk Bayern aufgegeben. Ein Teil der Belegschaft ging zur aufstrebenden Firma Grundig nach Nürnberg, alle anderen zogen nach Ulm, wo an der Elisabethenstraße das grosse Kasernengelände der früheren Ulanen zur Verfügung stand. Hier war genügend Platz vorhanden, vor allem, nachdem das von den Amerikanern dort eingerichtete Lager für befreite Zwangsarbeiter (Displaced Persons, DPs) aufgelöst worden war.

1953 hat Telefunken das ganze Gelände gekauft. Das war der Start des „Telefunken Anlagenwerkes“ in Ulm. Gleichzeitig wurde auch das Forschungsinstitut gegründet.


*) Anmerkung:
Über das Schicksal der polnischen Zwangsarbeiter im Bereich Ulm gibt es eine ausgezeichnete, hochinteressante Dokumentation, die leider wenig bekannt wurde und zwischenzeitlich auch vergriffen ist:
„Schönes, schreckliches Ulm" vom Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, Ulm Herausgeber: Dr. Silvester Lechner, 1997
In dieser Dokumentation kommen 130 ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu Wort.